Wenn Sie nicht glauben, in der Schweiz heimisch zu werden, bedeute, das «ß» gegen ein «ss» zu tauschen und «Ski» statt «Schi» zu sagen, dann herzlichen Glückwunsch! – Sie haben die erste Lektion bestanden.
Aber bevor Sie sich zu sehr auf die Schulter klopfen: Die Schweiz hat so viel mehr zu bieten, und nein, damit meine ich nicht nur Schokolade, Käse und teure Uhren. Es gibt Feinheiten, die so subtil sind, dass sie einem erst auffallen, wenn man mittendrin steckt – und oft verläuft dieser Erkenntnisgewinn gepaart mit einem kleinen Kulturschock auf der einen Seite und mit einem Stirnrunzeln auf der anderen Seite.
Schweizer Höflichkeit: Der Balanceakt für Expats auf dem «Sie»
Fangen wir mit den Umgangsformen an. Wenn Sie aus Deutschland oder Österreich kommen, sind Sie vielleicht daran gewöhnt, dass man schnell beim «Du» landet. Zwei nette Gespräche, ein gemeinsames Bier, und schon ist man per Du. In der Schweiz läuft das anders: Das «Sie» ist heilig. Auch wenn Sie jemanden fünfmal getroffen haben und schon zweimal mit ihm wandern waren, bleibt es erstmal beim «Sie». Der Übergang zum «Du» ist fast so episch wie ein Sonnenaufgang über den Alpen – er dauert, und wenn er dann kommt, ist er ein Ereignis!
Bis dahin müssen Sie jedoch damit rechnen, dass Ihnen die Schweizer mit ihrer distanzierten, aber unheimlich höflichen Art begegnen. Ein klassisches «Grüezi» an der Haustür reicht da nicht, wenn Sie Freundschaften knüpfen wollen.
Freundschaften schliessen in der Schweiz: Ein Langstreckenlauf
Wo wir gerade beim Thema sind: Freundschaften zu knüpfen, kann in der Schweiz ein echter Langstreckenlauf sein. In anderen Ländern reicht es, mit den Nachbarn über den Gartenzaun zu plaudern, und schon hat man die Einladung zur Grillparty. In der Schweiz? Eher unwahrscheinlich. Die Schweizer sind sehr höflich, aber auch zurückhaltend – Fremden gegenüber oft genauso kühl wie ein Gletscher im Hochsommer.
Wenn Sie also neu in der Schweiz sind, sollten Sie Geduld mitbringen. Ein spontaner Besuch bei den Nachbarn könnte ähnlich schockierend wirken, wie wenn Sie versuchen würden, das Matterhorn ohne Ausrüstung zu besteigen. Lieber erstmal anrufen und höflich nachfragen, ob man sich «irgendwann» treffen könnte.
Sobald Sie aber den inneren Zirkel einer Schweizer Freundschaft betreten haben, haben Sie dort Ihren festen Platz. Und das nicht nur für ein Wochenende – Freundschaften in der Schweiz sind auf Langlebigkeit ausgelegt, wie eine solide Schweizer Uhr.
Die grosse Kunst der Kaffeebestellung: «Schale» oder «Kaffee Crème»?
Jetzt kommen wir zum Alltag, der voller Stolperfallen steckt. Wer hätte gedacht, dass das Bestellen eines Kaffees nicht nur in Österreich zur Wissenschaft werden könnte? In Deutschland gibt es einfach «einen Kaffee, bitte».
In der Schweiz haben Sie die Wahl: «Schale», «Kaffee Crème», «Ristretto» oder doch einem «Espresso»? Und jeder Kaffee hat seine eigene Bedeutung! Seien Sie darauf vorbereitet, dass Sie mit einem einfachen «Kaffee» im besten Fall einen wissenden Blick ernten. – Und im schlimmsten Fall einen korrigierenden Kommentar. Kleiner Tipp: Bestellen Sie einfach das, was die Person vor Ihnen genommen hat und tun so, als hätten Sie es schon immer so gemacht.
Migros oder Coop? Eine Frage von nationaler Bedeutung
Doch die wahren Glaubensfragen kommen erst, wenn Sie sich in den Supermarkt wagen. Migros oder Coop? Das ist hier nicht nur eine Entscheidung darüber, wo Sie Ihren Einkauf erledigen. Das ist fast schon ein Bekenntnis zu einer Lebensphilosophie. Migros-Jünger und Coop-Fans können stundenlang darüber diskutieren, welcher Supermarkt der bessere ist. Und wagen Sie es ja nicht, Ihren Standpunkt zu wechseln – das wäre in etwa so, als würden Sie plötzlich behaupten, Emmentaler sei besser als Gruyère. Was in der Schweiz bisweilen einem Hochverrat gefährlich nahe kommt!
Pünktlichkeit: Wenn der Zug um 9.02 Uhr fährt, dann fährt er um 9.02 Uhr
Und dann gibt es da noch das Thema Pünktlichkeit. In Deutschland und Österreich wird Pünktlichkeit geschätzt, aber die Schweizer treiben das Ganze auf die Spitze.
Wenn im Fahrplan steht, der Zug fährt um 9.02 Uhr, dann fährt er (meistens) auch um genau 9.02 Uhr. Kein «knapp geschafft» oder «zwei Minuten später» – das gibt es hier nicht. Stellen Sie also sicher, dass Sie Ihre innere Uhr auf Schweizer Zeit einstellen, sonst werden Sie oft das Nachsehen haben.
Sprachliche Stolpersteine für Expats: Das «Züricher Geschnetzelte» und andere sprachliche Herausforderungen
Und schliesslich noch ein Kapitel über die sprachlichen Eigenheiten. In der Schweiz wird nicht einfach nur «Hallo» gesagt – hier heisst es «Grüezi» oder im Plural «Grüezi mitenand». Und dann gibt es «Glacé» statt «Eis». Klingt niedlich? Warten Sie, bis Sie versuchen, «Zürcher Geschnetzeltes» flüssig auszusprechen. Wenn Ihnen das ohne Zungenknoten gelingt, können Sie sicher sein, dass Sie sprachlich zumindest ein paar Punkte gesammelt haben. Aber Vorsicht: Auch im Dialekt gibt es regionale Unterschiede, die Sie als Neuankömmling vielleicht erst nach Jahren verstehen werden.
Apropos «Zürcher Geschnetzeltes» oder «Zürichsee»: Wenn Sie meinen, es müsste nach deutscher Logik doch bestimmt «Züricher Geschnetzeltes» und «Zürichersee» heissen, liegen Sie komplett daneben – und outen sich sofort als Expat und demzufolge als «nicht von hier».
Fazit: Mehr als nur das Eszett durch ein Doppel-S ersetzen
Um in der Schweiz wirklich heimisch zu werden, reicht es für Expats nicht aus, nur die orthografischen Feinheiten zu beherrschen. Sie müssen sich auf eine andere Art der Höflichkeit, eine gewisse Langsamkeit im Knüpfen von Freundschaften und ein rigoroses Verständnis von Pünktlichkeit einstellen. Aber wenn Sie diese Eigenheiten erst einmal verstanden haben, werden Sie merken: Die Schweiz bietet nicht nur atemberaubende Berge, sondern auch eine Kultur, die man lieben lernen kann – auch wenn der Weg dorthin manchmal ein kleines Abenteuer ist.
Am Ende werden Sie nicht nur das «ß» durch «ss» ersetzt haben, sondern eine ganze Welt an neuen, manchmal kuriosen, aber meist charmanten Feinheiten entdeckt haben.
Zugegeben, obiger Text wurde von einer Schweizerin geschrieben, die versucht hat, die Eigenheiten ihrer Landesschwestern und -brüder auf nicht allzu ernste Weise zu beleuchten. Aber dass wir Helvetier:innen durchaus unsere Eigenarten haben, das sei hiermit ehrlich zugegeben!
Noch mehr Lust auf unterhaltsam beschriebene Unterschiedlichkeiten? – Dann empfehle ich Ihnen den Besuch des Blogs von Herrn Wiese. Die dort publizierten Texte sind nicht mehr ganz taufrisch, dafür aber umso unterhaltsamer – und erst noch von einem Expat aus Deutschland in der Schweiz geschrieben… Sie denken sich, dass es doch nicht so schwierig sein kann, in der Schweiz Fuss zu fassen? – Da haben Sie natürlich Recht, denn ich habe in obigem Artikel masslos übertrieben! Vielleicht wünschen Sie sich als Expat trotzdem bisschen Unterstützung dabei, etwas schweizerischer zu werden? – Dann besuchen Sie doch mein Coaching-Angebot für Expats! |
P.S. Sie stecken mitten in einem Konflikt (z.B. wegen unserer schweizerischen Eigenarten?) Dann lade ich Sie dazu ein, den Artikel «Systemisches Coaching, wenn eine Mediation nicht möglich ist» zu lesen.